
Wenn Pflege an Grenzen kommt – und Empathie der Weg hinaus ist
Die Arbeit in der Pflege ist geprägt von Fürsorge, Fachkompetenz und der täglichen Begegnung mit Menschen in Ausnahmesituationen. Es sind Berührungen mit dem Leben in seiner ganzen Tiefe – mit Krankheit, Schmerz, Angst, aber auch mit Hoffnung, Nähe und Vertrauen. Doch es gibt Tage, an denen selbst erfahrene Pflegekräfte an ihre persönlichen Grenzen stoßen: wenn Patient:innen laut werden, sich verweigern, panisch reagieren oder mit Aggression auf die angebotene Hilfe antworten. Situationen, in denen das Gegenüber scheinbar nicht erreichbar ist und die Kommunikation ins Leere läuft.
In solchen Momenten können Gefühle von Frust, Hilflosigkeit oder sogar innerem Rückzug entstehen. Der eigene Anspruch, professionell und zugewandt zu bleiben, gerät ins Wanken. Man fragt sich: Wie soll ich damit umgehen? Was braucht dieser Mensch gerade – und was brauche ich?
Genau hier kann Empathie zur Brücke werden. Sie ist kein „weichgespültes“ Konzept, das alles hinnimmt, sondern eine kraftvolle Haltung, die versucht zu verstehen, was hinter einem Verhalten steckt. Warum reagiert jemand mit Ablehnung oder Wut? Welche Ängste, Ohnmacht oder Erfahrungen könnten sich darin ausdrücken? Empathie bedeutet, sich berühren zu lassen – ohne sich selbst zu verlieren. Es ist der Versuch, trotz aller Belastung einen Raum zu schaffen, in dem Menschlichkeit möglich bleibt.
Dieser Artikel widmet sich genau diesen Grenzmomenten im Pflegealltag – und zeigt, wie Empathie nicht nur Patient:innen, sondern auch Pflegenden einen Weg hinaus eröffnen kann. Einen Weg, der nicht durch Perfektion, sondern durch echtes Verstehen geprägt ist.
Was macht eine Pflegesituation „herausfordernd“?
Nicht jede Situation, die schwer fällt, ist automatisch problematisch. Doch es gibt Momente, in denen Pflegekräfte spüren: „Jetzt wird es wirklich schwierig.“ Situationen, in denen Routinen nicht mehr greifen, Worte nicht mehr wirken – und die emotionale Belastung steigt.
Wenn Belastung zur Herausforderung wird
Herausfordernd wird eine Pflegesituation vor allem dann, wenn:
👉 Emotionen hochkochen – etwa durch Angst, Schmerz oder Verzweiflung auf Seiten der Patient:innen oder auch durch Überforderung auf Seiten der Pflegenden.
👉 Kommunikation nicht mehr gelingt, weil Sprache, Aufmerksamkeit oder Vertrauen fehlen.
👉 Verhaltensweisen grenzüberschreitend wirken, z. B. durch Beleidigungen, Wutausbrüche oder körperliche Übergriffe.
👉 Pflegemaßnahmen verweigert werden, obwohl sie notwendig wären.
👉 Die eigenen Grenzen erreicht oder überschritten werden, was häufig in Frustration, Rückzug oder sogar emotionaler Abstumpfung mündet.
Typische Formen herausfordernder Situationen
Solche Belastungssituationen zeigen sich in ganz unterschiedlichen Formen – teils vorhersehbar, teils aus dem Nichts auftretend. Häufig begegnen Pflegekräfte dabei:
👉 Aggression und verbaler Gewalt: Schreien, Beschimpfen oder Drohen können eine Form der Selbstbehauptung oder Ausdruck tiefer Verunsicherung sein.
👉 Widerstand gegen Pflegehandlungen: Wenn Körperpflege, Mobilisation oder Medikamentengabe aktiv abgelehnt werden.
👉 Starken psychischen Reaktionen: Panik, depressive Zustände oder unkontrollierte Emotionen machen eine einfühlsame Begleitung besonders wichtig – und zugleich schwierig.
👉 Demenzbedingtem Verhalten: Menschen mit kognitiven Einschränkungen können sich schwer mitteilen – ihre Reaktionen wirken oft irrational, haben aber fast immer einen emotionalen Ursprung.
👉 Kulturellen Missverständnissen oder Sprachbarrieren: Unterschiedliche Erwartungen an Nähe, Intimität oder Rollenverhalten können leicht zu Konflikten führen.
Wenn Professionalität nicht mehr reicht
In solchen Situationen geraten Pflegekräfte oft an den Punkt, an dem Fachwissen und Erfahrung allein nicht mehr weiterhelfen. Dann braucht es mehr – eine Haltung, die versteht, ohne zu verharmlosen. Eine Haltung, die Grenzen anerkennt, ohne sich selbst aufzugeben.
Hier beginnt der Raum für Empathie – als menschliche Ressource und professionelles Werkzeug.
Aber was genau macht herausfordernde Situationen so belastend?
Herausfordernde Pflegesituationen sind nicht einfach nur „schwierig“ – sie bringen Pflegekräfte oft an emotionale, kommunikative und manchmal auch ethische Grenzen. Das Besondere an diesen Momenten ist: Sie entziehen sich der Routine. Sie lassen sich nicht einfach „abarbeiten“. Sie fordern nicht nur Fachlichkeit – sondern vor allem innere Stabilität, Beziehungskompetenz und situative Klugheit.
👉 Unvorhersehbarkeit und Kontrollverlust
Herausfordernde Situationen treten oft plötzlich auf: Ein Patient schreit plötzlich los, wird beleidigend, verweigert die Nahrungsaufnahme oder zieht sich komplett zurück. Diese plötzliche Veränderung erzeugt Unsicherheit – man weiß nicht, wie es weitergeht oder wie man helfen kann. Kontrolle fehlt – und das kann auch bei Pflegenden Stress, Hilflosigkeit oder sogar Angst auslösen.
👉 Emotionale Übertragung (und Gegenübertragung)
Herausfordernd ist nicht nur das Verhalten des Gegenübers – sondern auch, was es in einem selbst auslöst. Wut, Angst, Trauer oder Ablehnung können überspringen – oft unbewusst. Diese emotionale Übertragung macht es schwer, sachlich und professionell zu bleiben. Wer angeschrien wird, spürt automatisch den Impuls, sich zu verteidigen oder zurückzuziehen.
Deshalb ist die eigene emotionale Selbstwahrnehmung so zentral: Was macht diese Situation mit mir? Warum reagiere ich so stark? Nur wer das erkennt, kann gezielt gegensteuern.
👉 Spannungsfeld zwischen Nähe und Abgrenzung
Pflege ist Beziehungsarbeit – und genau das macht es so anspruchsvoll. In herausfordernden Situationen gerät man leicht in einen inneren Konflikt: Wie bleibe ich menschlich und empathisch – ohne mich selbst aufzugeben? Zu viel Nähe kann überfordern, zu viel Distanz kalt wirken. Dieses Spannungsfeld ist nicht immer auflösbar – aber bewusst steuerbar.
👉 Ethik im Ausnahmezustand
Was tun, wenn eine notwendige Pflegehandlung verweigert wird? Wenn Patient:innen Entscheidungen treffen, die ihrem Wohl offensichtlich schaden? Wenn Schutz und Selbstbestimmung in Konflikt geraten? Herausfordernde Situationen fordern nicht nur Kommunikation – sondern auch ethische Orientierung.
Empathie hilft hier nicht nur beim Verstehen des Verhaltens, sondern auch beim Finden von Kompromissen: Was braucht der Mensch gerade wirklich? Und was ist meine Aufgabe in diesem Moment?
👉 Dauerschleifen und Wiederholungen
Besonders bei dementiellen Erkrankungen oder psychischen Krisen kann ein herausforderndes Verhalten immer wiederkehren – trotz aller Bemühungen. Das macht es emotional zermürbend. Viele Pflegende berichten von dem Gefühl, „nicht durchzudringen“ oder „immer wieder von vorne anfangen zu müssen“.
Hier braucht es nicht nur Empathie für die Betroffenen – sondern auch langfristige Selbstfürsorge und eine tragfähige Teamkultur, die solche Wiederholungen gemeinsam auffängt.
Empathie als Schlüssel – aber wie?
Inmitten von Stress, Zeitdruck und emotionaler Belastung klingt „Empathie“ oft wie ein schönes Ideal – schwer greifbar und kaum umsetzbar. Doch gerade in herausfordernden Situationen kann sie zum stärksten Werkzeug werden. Nicht, weil sie alles löst, sondern weil sie einen Perspektivwechsel ermöglicht: Weg vom reinen Verhalten, hin zum Menschen dahinter.
Empathie heißt nicht: alles aushalten
Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass Empathie bedeutet, alles hinzunehmen oder sich selbst aufzugeben. Das Gegenteil ist der Fall: Wer empathisch handelt, achtet auch auf die eigenen Grenzen. Empathie bedeutet nicht, sich selbst zu überfordern – sondern Situationen zu deuten, anstatt nur zu reagieren und zu fragen:
👉 Was könnte mein Gegenüber gerade erleben?
👉 Welche Gefühle könnten hinter dieser Ablehnung stecken?
👉 Was macht dieses Verhalten mit mir – und warum?
„Früher habe ich Wut oder Ablehnung schnell persönlich genommen. Heute versuche ich zu verstehen, was mein Gegenüber gerade durchmacht. Das verändert alles – auch meine eigene Haltung.“
Gesundheits- und Krankenpfleger, 45 Jahre
Empathie beginnt mit innerer Haltung
Empathie ist mehr als Mitgefühl. Sie ist eine Haltung, die davon ausgeht, dass jedes Verhalten – so herausfordernd es auch wirkt – einen Ursprung hat. Oft liegt dieser Ursprung in Angst, Kontrollverlust, Schmerz oder fehlender Orientierung. Wer dies erkennt, kann klarer und zugleich menschlicher reagieren.
Das bedeutet konkret:
👉 Zuhören statt bewerten
👉 Beobachten statt vorschnell deuten
👉 Verständnis zeigen, ohne Verhalten zu legitimieren
👉 Den Kontakt zum Menschen suchen – nicht nur zum Symptom
Empathie eröffnet damit Handlungsspielräume, wo zuvor nur Frustration war. Sie schützt vor Zynismus, stärkt die Beziehung und kann Eskalationen vorbeugen – nicht immer, aber oft.
Selbstempathie nicht vergessen
Empathie endet nicht beim Gegenüber. Wer professionell mitfühlt, muss auch gut mit sich selbst verbunden bleiben. Selbstempathie heißt, die eigene Belastung wahrzunehmen, sich Pausen zuzugestehen und sich selbst mit derselben Fürsorge zu begegnen, die man anderen schenkt. Denn nur wer sich selbst nicht verliert, kann für andere da sein.

Praktische Tipps für den Umgang mit herausfordernden Situationen
Herausforderndes Verhalten fordert nicht nur Geduld, sondern auch eine klare innere Haltung und kommunikatives Geschick. Im Folgenden findest du konkrete Strategien für typische Belastungssituationen – mit dem Ziel, empathisch, professionell und wirksam zu bleiben.
👉 Bei verbaler Aggression oder Beschimpfungen
Was passiert: Patient:innen äußern sich laut, beleidigend oder drohend – oft in Verbindung mit innerer Not, Angst oder Kontrollverlust.
ℹ️ Was hilft:
✅ Ruhe bewahren, nicht persönlich nehmen – Das Verhalten richtet sich selten gegen dich als Person, sondern gegen die Situation.
✅ Grenzen benennen, ohne Eskalation:
„Ich sehe, dass Sie wütend sind. Ich bin bereit, mit Ihnen zu sprechen – aber nicht, wenn ich beleidigt werde.“
✅ Weg aus der Konfrontation suchen: Abstand halten, aus der Eskalationsdynamik aussteigen, ggf. Kolleg:innen hinzuziehen.
✅ Nach der Situation reflektieren: Was hat den Ausbruch ausgelöst? Wie kann ich mich beim nächsten Mal besser schützen?
👉 Bei Verweigerung von Pflegehandlungen
Was passiert: Menschen lehnen Hilfe bei Körperpflege, Mobilisation oder Medikamentengabe ab.
ℹ️ Was hilft:
✅ Autonomie respektieren: Statt zu drängen, fragen: „Was ist Ihnen gerade wichtig?“ – Das kann Kontrolle zurückgeben.
✅ Pflegehandlung erklären und begründen:
„Ich möchte gern kurz erklären, warum diese Wundversorgung heute wichtig ist.“
✅ Zeit geben und Alternativen anbieten:
„Wollen wir in einer halben Stunde nochmal sprechen?“ Oder: „Sie entscheiden: erst Gesicht oder Hände?“
✅ Vertrauen aufbauen durch Beziehungskontinuität: Wiederholte Begegnung mit derselben Pflegeperson kann Widerstände abbauen.
👉 Bei starker Angst, Panik oder Überforderung
Was passiert: Patient:innen reagieren mit Rückzug, Zittern, Weinen oder Panik – die Kommunikation bricht ab.
ℹ️ Was hilft:
✅ Sicherheit durch klare Präsenz geben:
„Ich bin hier, ich bleibe da – wir machen das zusammen, in Ihrem Tempo.“
✅ Körperkontakt nur nach Zustimmung: Nähe kann Sicherheit geben – oder Angst verstärken. Immer fragen.
✅ Kurze, ruhige Sätze verwenden, Pausen lassen: Keine Informationsflut. Orientierung geben durch langsames, ruhiges Sprechen.
✅ Nonverbale Signale bewusst einsetzen: Tonfall, Körpersprache und Blickkontakt können oft mehr bewirken als Worte.
👉 Bei demenzbedingtem, herausforderndem Verhalten
Was passiert: Wiederholungen, Misstrauen, Ablehnung, scheinbar „unlogisches“ Verhalten.
ℹ️ Was hilft:
✅ Nicht korrigieren oder diskutieren – sondern mitgehen:
„Ja, das klingt so, als wäre das gerade sehr wichtig für Sie.“
✅ Gefühle spiegeln, nicht Inhalte hinterfragen:
„Ich merke, dass Sie sich unwohl fühlen. Wollen wir gemeinsam kurz rausgehen?“
✅ Reize reduzieren, Umgebung beruhigen: Licht, Lärm, Hektik können Verwirrung oder Aggression verstärken.
✅ Rituale und bekannte Abläufe nutzen: Orientierung geben durch Wiederholungen und Vertrautes.
👉 Bei kulturellen Missverständnissen oder Sprachbarrieren
Was passiert: Kommunikation ist eingeschränkt, Erwartungen an Pflege sind unterschiedlich.
ℹ️ Was hilft:
✅ Geduldig nachfragen, ohne Druck:
„Wie möchten Sie das haben?“ oder „Ist das so für Sie in Ordnung?“
✅ Einfache Sprache, keine Fachbegriffe oder Redewendungen.
✅ Respekt für kulturelle Werte zeigen, auch wenn sie fremd wirken.
✅ Dolmetschende Dienste oder Piktogramme einsetzen, wo möglich.
❗ Merke: Empathie bedeutet nicht, schwieriges Verhalten gutzuheißen – sondern es zu verstehen, um angemessen und menschlich darauf zu reagieren. Sie ist kein Verzicht auf Professionalität, sondern ihre menschliche Vertiefung.
Wenn es schwierig wird – wächst, was uns wirklich ausmacht
Pflege ist oft alles gleichzeitig: schön und schmerzhaft, erfüllend und zermürbend, routiniert und plötzlich überwältigend. Herausfordernde Situationen sind kein Zeichen des Scheiterns – sie sind der Alltag vieler Pflegekräfte. Und sie sind der Ort, an dem sich entscheidet, was uns wirklich trägt.
Empathie ist dabei kein weichgespültes Ideal. Sie ist ein aktiver, klarer, manchmal unbequemer Weg – weg vom bloßen Reagieren, hin zum bewussten Begleiten. Sie hilft uns, Menschen in ihrem Verhalten zu verstehen, statt sie auf ihr Verhalten zu reduzieren. Und sie schützt uns davor, in innerem Rückzug zu verharren, wenn es schwierig wird.
„Manchmal ist nicht das, was ich tue, das Entscheidende – sondern, wie ich einem Menschen in dem Moment begegne.“
Wer in der Lage ist, auch in stürmischen Momenten empathisch zu bleiben, schafft Räume, in denen Menschlichkeit spürbar bleibt – für die, die wir pflegen. Und für uns selbst.
Denn Empathie ist kein Ausweg. Sie ist der Weg mitten hindurch.