Freitagabend. Der Moment, auf den du die ganze Woche hingearbeitet hast, ist endlich da. Die Füße hochgelegt, die Jogginghose sitzt so perfekt, dass selbst Karl Lagerfeld nichts dagegen sagen könnte, und der Duft der frisch gelieferten Pizza erfüllt den Raum. Auf dem Fernseher läuft deine Lieblingsserie, und für einen kurzen, seligen Augenblick bist du sicher: Jetzt kann dir nichts und niemand diese heiligen Stunden der Ruhe nehmen.
Die Welt könnte nicht besser sein, denkst du, während du tief einatmest und die Sorgen des Alltags von dir abfallen. Doch dann passiert es. Ein Geräusch, so dezent und doch so eindringlich, dass es wie ein Fremdkörper in deiner Wohlfühloase wirkt. Summ… summ… Dein Handy.
Du weißt, was das bedeutet, noch bevor du hinsiehst. Wie in Zeitlupe wandert dein Blick auf das Display. Die Arbeit ruft. Dein Herz macht einen kleinen Satz, deine innere Stimme flüstert: Leg’s weg, tu so, als hättest du es nicht gehört. Aber dein schlechtes Gewissen meldet sich direkt zu Wort: Was, wenn es wirklich wichtig ist? Was, wenn jemand deine Hilfe braucht?
Zögernd nimmst du ab. Noch bevor du „Hallo“ sagen kannst, hörst du am anderen Ende eine Stimme mit einer Mischung aus müder Verzweiflung und der Hoffnung, dass du das Wunder bist, auf das alle gewartet haben: „Hey… also… sorry, aber wir haben ein Problem. Der Dienstplan ist ein totales Desaster. Kannst du vielleicht…? Du wärst unsere Rettung!“
Unsere Rettung. Natürlich. Nicht weniger. Du bist schließlich Pflegekraft, Teilzeit-Weltretter*in und Vollzeit-Pflaster für alles, was im Gesundheitssystem schiefläuft.
Ein Teil von dir will es nicht mehr hören. Dieser Teil schreit laut und deutlich: „Sag Nein! Denk an dich!“ Aber dann meldet sich natürlich auch sofort wieder das schlechte Gewissen, leise und eindringlich: „Aber was, wenn niemand anderes kann? Was, wenn alles zusammenbricht?“. Dein Verstand will noch einschreiten, doch ehe du dich versiehst, hörst du dich sagen: „Ja, klar, ich komme.“
Und während die Pizza kalt wird und die Couch leer bleibt, fragst du dich: Warum kann ich nicht einfach Nein sagen? Warum sage ich bloß immer Ja?
Dienstplan-Tetris: Wenn dein Alltag zum Puzzlespiel wird
Der Dienstplan in der Pflege ist wie ein besonders kniffliges Tetris-Spiel – nur ohne die Möglichkeit, irgendwann auf „Pause“ zu drücken. Und anders als beim echten Tetris, wo die Steine vorhersehbar und in festgelegten Formen vom Himmel fallen, gleicht der Dienstplan eher einem chaotischen Zufallsgenerator.
Tetris-Level 1: Der Plan steht – theoretisch
Am Anfang sieht der Dienstplan noch wie eine wohlüberlegte Struktur aus. Früh-, Spät- und Nachtschichten sind sauber verteilt, die Kolleg*innen verlässlich eingeplant. Wie bei Tetris, wenn du gerade angefangen hast und die ersten paar Steine ruhig aufeinanderlegen kannst, entsteht eine perfekte Basis. Du siehst den Plan an und denkst: Das könnte funktionieren.
Tetris-Level 2: Die ersten Lücken
Doch dann kommt das Leben dazwischen. Krankmeldungen trudeln ein, Urlaubswünsche werden genehmigt, und plötzlich sind die geordneten Reihen durchbrochen. Im Tetris-Vergleich: Es sind nicht mehr nur die L-Stücke, die fallen – plötzlich tauchen diese langen, unhandlichen Klötze auf, die einfach nirgends hinpassen. Ein Spätdienst bleibt unbesetzt, eine Kollegin springt aus der Frühschicht ab, und das Chaos beginnt.
Tetris-Level 3: Der Joker, das bist du
Hier kommst du ins Spiel. Du bist der eine Stein, der jede Lücke füllen soll. Egal, ob du eigentlich frei hast, ob du schon sieben Tage am Stück gearbeitet hast, eigentlich eine Verabredung hattest oder ob du gerade mit deiner Familie essen wolltest – du wirst gerufen, weil du die perfekte Form für den Platz bist. Der Dienstplan-Joker, der alles rettet.
Aber wie beim echten Tetris liegt darin das Problem: Je mehr du als Joker einspringst, desto schneller fällt der nächste unausgeglichene Stein. Und irgendwann geht es nicht mehr darum, Reihen zu schließen – sondern nur noch darum, dass der Turm nicht zusammenstürzt.
Tetris-Level 4: Game Over?
Je länger dieses chaotische „Tetris“ gespielt wird, desto schwieriger wird es. Jede Schicht, die unbesetzt bleibt, jeder Kollege, der ausfällt, jedes Einspringen, das du übernimmst, stapelt sich zu einem immer höheren Turm aus Belastungen. Bis du irgendwann das Gefühl hast: Das Spiel ist nicht mehr zu gewinnen.
Die Folgen des ewigen Ja-Sagens: Ein Marathon ohne Ziel
Stell dir vor, du läufst einen Marathon. Doch jedes Mal, wenn du eine Erfrischungsstation erreichst, wird dir gesagt: „Noch ein Stück, dann kannst du Pause machen.“ Nur dass dieses „Stück“ nie endet. Das ist das Gefühl, wenn du in der Pflege ständig Ja sagst. Es ist, als würdest du ein Rennen laufen, für das du weder trainiert noch ausreichend Wasser dabei hast.
Erschöpfung: Die stille Warnlampe
Das Erste, was du spürst, ist die Erschöpfung – und die schleicht sich heimlich an. Anfangs glaubst du noch, dass du den nächsten Dienst schon irgendwie schaffen wirst. Doch die Pausen werden kürzer, die Nächte unruhiger, und selbst an deinen freien Tagen kannst du dich kaum noch erholen. Dein Körper signalisiert dir irgendwann, dass die Energie ausgeht: Konzentrationsprobleme, Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder sogar dauerhafte Müdigkeit werden zu deinen ständigen Begleitern.
Psychologisch gesehen ist diese Dauererschöpfung eine rote Lampe, die signalisiert, dass du dich in einer „Überforderungsphase“ befindest. Dein Gehirn ist so sehr im Überlebensmodus, dass Erholung kaum noch greift. Wenn du nicht gegensteuerst, wirst du irgendwann zum Zombie auf Autopilot – funktionierend, aber längst nicht mehr lebendig.
Privatleben? Das kann warten… oder doch nicht?
Wenn du zu oft Ja sagst, bleiben andere Dinge zwangsläufig auf der Strecke. Freunde wollen dich sehen? Du musst absagen. Dein Partner hat ein romantisches Dinner geplant? Der Dienstplan ruft. Deine Hobbys, deine Auszeit, sogar das einfache Nichtstun – alles wird hintenangestellt.
Doch je mehr du dein Privatleben opferst, desto größer wird die innere Leere. Beziehungen leiden, Freundschaften verblassen, und irgendwann fragst du dich: Für wen oder was mache ich das eigentlich alles?
Gesundheit: Die Rechnung kommt immer
Burnout ist keine Metapher. Es ist ein ernstzunehmender Zustand, der dein Leben komplett verändern kann. Symptome wie emotionale Abstumpfung, körperliche Schwäche oder eine permanente Gereiztheit sind Warnzeichen, dass du kurz davor bist, auszubrennen. Chronische Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzprobleme oder sogar Depressionen sind die langfristigen Folgen, wenn du dich immer wieder selbst übergehst.
Ein ewiges Ja zerrt nicht nur an deiner psychischen Gesundheit – auch dein Körper zahlt einen hohen Preis. Und der wird umso teurer, je länger du ihn ignorierst.
Ein Nein, das deine Welt retten kann
Ein Nein zu sagen fühlt sich oft schwer an, fast wie eine kleine Rebellion. Schließlich bist du doch jemand, der gerne hilft, der Verantwortung übernimmt und sich nicht drücken will. Doch was, wenn dieses Nein kein Egoismus ist, sondern eine Form von Mut?
Warum ein Nein kein Verrat ist
Viele Pflegekräfte kämpfen mit dem Gedanken, dass ein Nein unkollegial ist. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ein Nein bedeutet, dass du Verantwortung für dich selbst übernimmst. Es zeigt, dass du verstanden hast, dass du nur dann langfristig ein starkes Teammitglied sein kannst, wenn du selbst stabil bleibst.
Psychologisch gesehen setzt ein Nein klare Grenzen – ein fundamentales Element, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Studien zeigen, dass Menschen, die Grenzen setzen können, resilienter sind und weniger anfällig für Stress und Burnout.
Ein Nein ist ein Ja zu dir selbst
Jedes Nein zu einer Zusatzschicht ist ein Ja zu deiner Erholung. Es ist ein Ja zu deinem Feierabend, zu deinem Körper und zu deinen Lieben. Es ist ein Ja zu deinem Bedürfnis nach Ruhe, nach Zeit für dich selbst, nach einem Leben außerhalb der Arbeit.
Dieses Ja hat nichts mit Faulheit zu tun – es ist ein Ausdruck von Selbstfürsorge. Und genau diese Fürsorge für dich selbst brauchst du, um langfristig anderen zu helfen.
Warum ein Nein nicht das Ende ist
Hier ist die Wahrheit: Die Welt wird nicht untergehen, wenn du Nein sagst. Der Dienstplan wird sich anpassen. Die Leitung wird Lösungen finden. Und deine Kolleg*innen werden vielleicht enttäuscht sein, aber sie werden es überleben.
Ein Nein ist nicht das Ende der Pflege – es ist der Anfang einer Arbeitskultur, in der Erholung und Respekt vor den eigenen Grenzen genauso wichtig sind wie Teamgeist und Einsatzbereitschaft.
Es ist völlig verständlich, dass das Nein-Sagen gerade im Pflegeberuf oder in sozialen Kontexten, in denen man viel Verantwortung trägt, oft mit Schuldgefühlen verbunden ist. Doch es gibt Strategien, die dir helfen können, Nein zu sagen, ohne dich schuldig zu fühlen.
Hier sind einige praktische Tipps:
1. Selbstreflexion: Erkenne deinen Wert
Bevor du überhaupt mit dem Nein-Sagen beginnst, ist es wichtig, dir bewusst zu machen, dass du genauso wichtig bist wie die anderen. Deine eigene Gesundheit und dein Wohlbefinden sollten immer an erster Stelle stehen, um langfristig in der Lage zu sein, anderen zu helfen. Ohne Erholung kannst du niemandem deine beste Unterstützung bieten.
Beispiel: „Indem ich mich jetzt ausruhe, kann ich morgen wieder mit voller Energie und Konzentration arbeiten.“
2. Formuliere dein Nein respektvoll und klar
Ein Nein muss nicht unhöflich oder abweisend sein. Es lässt sich respektvoll und dennoch klar formulieren, ohne die Verantwortung für den anderen oder den eigenen Wert in Frage zu stellen.
Beispiel: „Ich verstehe, dass das dringend ist, aber ich kann heute leider nicht einspringen, weil ich meine Erholung brauche, um morgen wieder voll leistungsfähig zu sein.“
3. Setze klare Grenzen und kommuniziere sie frühzeitig
Wenn du regelmäßig merkst, dass du in ähnliche Situationen gerätst, in denen du das Gefühl hast, ständig „Ja“ sagen zu müssen, kann es hilfreich sein, deine Grenzen proaktiv zu kommunizieren. Setze klare Erwartungen für deine Arbeitszeiten und Verfügbarkeiten und teile diese mit deinen Kolleg*innen und Vorgesetzten.
Beispiel: „Ich kann grundsätzlich nur bis 18 Uhr arbeiten und brauche meine Abende für mich. Ich hoffe, du hast dafür Verständnis.“
4. Biete Alternativen an, wenn möglich
Wenn du dich unwohl dabei fühlst, einfach Nein zu sagen, kannst du versuchen, eine Lösung anzubieten. Vielleicht gibt es einen anderen Zeitpunkt, zu dem du helfen kannst, oder du kannst eine andere Person vorschlagen.
Beispiel: „Ich kann leider heute nicht, aber vielleicht könnte Kollege X einspringen?“
5. Übe das Nein-Sagen
Wie bei vielen anderen Dingen im Leben, wird das Nein-Sagen mit der Übung leichter. Du kannst kleine Situationen nutzen, um „Nein“ zu sagen – im Alltag, bei Freunden oder in weniger stressigen Momenten. Je öfter du es übst, desto einfacher wird es.
Beispiel: Übe mit einer Vertrauensperson, wie du in verschiedenen Szenarien ein höfliches, aber bestimmtes Nein formulierst.
6. Glaube an die Bedeutung von Selbstfürsorge
Erinnere dich immer daran, dass Selbstfürsorge kein Luxus ist, sondern eine Notwendigkeit. Wenn du deine eigenen Bedürfnisse immer hinten anstellst, wirst du auf lange Sicht nicht in der Lage sein, anderen zu helfen. Deine Gesundheit und dein Wohlbefinden sind genauso wichtig wie die Bedürfnisse der anderen.
Beispiel: „Ich tue das nicht, um unkollegial zu sein, sondern weil ich mich um mich selbst kümmern muss, um dir später wirklich helfen zu können.“
7. Akzeptiere die Reaktionen der anderen
Oftmals kommt die Angst vor Schuldgefühlen daher, dass man befürchtet, andere zu enttäuschen. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die Reaktionen der anderen nicht deine Verantwortung sind. Du kannst nicht die ganze Welt retten, und es ist völlig in Ordnung, wenn jemand zunächst enttäuscht oder überrascht ist. Im Endeffekt wirst du mit einem klaren Kopf und frischer Energie viel hilfreicher sein.
Beispiel: „Ich verstehe, dass du enttäuscht bist, aber ich muss für mich selbst sorgen. Ich hoffe, du verstehst das.“
8. Vertraue darauf, dass die Welt weitergeht
Die Welt wird nicht untergehen, wenn du einmal Nein sagst. Der Dienstplan wird sich anpassen, und deine Kolleg*innen werden Lösungen finden. Du musst nicht immer derjenige sein, der alle Lücken füllt. Deine Grenzen zu wahren, ist ein aktiver Beitrag zur langfristigen Stabilität des Teams.
Beispiel: „Ich kann heute nicht helfen, aber ich bin sicher, das Team wird eine Lösung finden.“
-------------------------------------------
Das Nein-Sagen erfordert Übung und Mut, aber es ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die du entwickeln kannst, um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Denke daran: Ein Nein ist nicht unkollegial oder egoistisch. Es ist ein Ausdruck von Selbstfürsorge, und nur wenn du dich selbst respektierst, kannst du anderen wirklich helfen.
Die Herausforderungen im Pflegeberuf sind vielfältig und führen häufig zu ernsthaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Pflegekräfte fast doppelt so häufig von Burnout betroffen sind wie der Durchschnitt der Beschäftigten. Im Jahr 2022 verzeichnete man bei Pflegekräften durchschnittlich 28,2 Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von Burnout. (Ärzteblatt)
Zudem denken viele der Pflegekräfte über einen Berufsausstieg nach, wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht verbessern. (Welt)
Diese Zahlen verdeutlichen die dringende Notwendigkeit, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, um die Gesundheit der Pflegekräfte zu schützen und die Attraktivität des Berufs langfristig zu sichern.
Checkliste: Grenzen setzen – So bewahrst du dich vor Überlastung
Beim Pflege-Tetris bist du wichtig – aber denk daran: Auch der beste Joker braucht Pausen, um langfristig das Spiel am Laufen zu halten. Grenzen zu setzen ist kein Akt von Egoismus, sondern von Selbstfürsorge – für uns und für diejenigen, denen wir langfristig helfen möchte.
Probiere es diese Woche aus: Sag bewusst Nein und beobachte, wie es sich anfühlt. Du wirst sehen, wie wichtig dieses kleine Wort sein kann.